Sag mir deine Meinung, Kritiker!
December 19, 2007 (updated on October 24, 2009)
Die Zeiten, als Journalisten die Berichterstattung über Musik klar dominierten, sind vorbei. Heute tritt der Konsument als Kritiker auf. Das Medium Weblog macht es möglich.
DAVID BAUER
Medium: Basler Zeitung
Ressort: Kultur
Datum: 21. April 2006
Eine Bierkiste reicht. Man stellt sie auf, sich selber drauf, und verkündet, was man zu sagen hat. Zumindest beim Speakers’ Corner am nordöstlichen Ende des Hyde Park in London gilt dies. Mehrheitlich skurrile Gestalten nutzen die Gelegenheit und sagen viel, ohne dass sie viel zu sagen haben.
Auch das Internet hat seinen Speakers’ Corner. Die elektronische Bierkiste ist ein Weblog (kurz: Blog): eine Website, die periodisch neue Einträge aufweist, wobei der aktuellste Beitrag jeweils zuoberst erscheint. Wer seine Stimme als Blogger erheben möchte, braucht nicht mehr als eine simple Website; die Aufschaltung bei einem Anbieter wie Blogger.com oder Kaywa ist kostenlos und dauert nicht länger als ein paar Minuten.
Vielfalt. Die leichte Zugänglichkeit dieses Mediums sorgt für eine enorme Vielfalt. Weltweit bereits über hundert Millionen Menschen führen einen Blog und schreiben über alle erdenklichen Themen. In den meisten Fällen werden sie dafür bestenfalls belächelt, wenn sie denn überhaupt wahrgenommen werden – wie im Hyde Park.
Daraus abzuleiten, dass Blogs als Medium nichts taugen, wäre allerdings ebenso falsch, wie wenn man behaupten würde, Musik sei grundsätzlich belanglos, bloss weil es viele schlechte Bands gibt. Das Medium kann ganz unterschiedlich genutzt werden und ist entsprechend unterschiedlich relevant. Auf die Bierkiste kommt es nicht an, sondern darauf, wer draufsteht. Im Hyde Park einst zum Beispiel Karl Marx oder George Orwell.
Konsumentenkritik. Auch in der Blogosphäre, der Welt der Blogs, bilden sich einige bedeutende Stimmen heraus. Interessant sind Blogs dann, wenn nicht der Schreiber und sein höchstwahrscheinlich durchschnittliches Leben im Zentrum stehen, sondern Neuigkeiten und Meinungen zu einem bestimmten Thema: Wenn der Blog nicht ein Online-Tagebuch ist, sondern ein Online-Medium. Ein gutes Beispiel dafür sind Musikblogs, die in letzter Zeit stark an Bedeutung gewonnen haben.
Vermehrt liest man, dass Bands «über das Internet gross geworden sind». Verantwortlich dafür sind in erster Linie Blogs. Heute sind es nicht mehr (nur) die Musikmagazine, die Trends setzen, sondern (auch) die zahlreichen Musikblogs. Es urteilen nicht nur die Profis, sondern jedermann. Der Konsument wird als Kritiker gehört.
Zugespitzt lässt sich folgern: Der Musikjournalismus von morgen braucht keine Journalisten mehr. Der Meinungsaustausch über neue Bands und Trends findet unter Gleichgesinnten in der Blogosphäre statt. Blogger zitieren sich gegenseitig, Leser nehmen mit Kommentaren Einfluss auf die Inhalte, dank Weblinks vernetzen sich die Blogs zu einer grossen Gemeinschaft. Und alles geht viel schneller als in den klassischen Medien. Die Beispiele der jüngst hochgejubelten Rockbands Arctic Monkeys und Clap Your Hands Say Yeah zeigen, dass der Hype im Internet seinen Höhepunkt bereits erreicht hatte, als ihn Printmedien aufgriffen.
Profil. Dass viele Konsumenten ein Mitteilungsbedürfnis haben, hat das Online-Versandhaus Amazon früh erkannt und seinen Kunden die Möglichkeit gegeben, selber Kritiken zu schreiben zu den angebotenen Produkten wie Büchern und CDs. Ein Angebot, das rege genutzt wird.
Musikblogs gehen noch einen Schritt weiter: Der Schreiber hat seine eigene Plattform, die alle Meinungsäusserungen zusammenfasst. Er wird gewissermassen zum Chefredakteur seines eigenen Mediums. Durch regelmässiges Bloggen gibt sich der Schreiber ein Profil und wird als Kritiker wahrgenommen. Allerdings bleibt dieses Profil bei vielen Musikblogs verschwommen, oft weil zu unregelmässig neue Einträge publiziert werden und keine klare Linie erkennbar ist. Die entsprechenden Blogs finden denn auch keine grosse Beachtung: Sie sind kaum mehr als eine Durchgangsstation im Schneeballsystem bei der Verbreitung von Neuigkeiten.
Einzelne Blogs dagegen haben bereits ein sehr ausgeprägtes Profil entwickelt. So etwa popnutten.de, einer der besten und meistgelesenen Musikblogs im deutschsprachigen Raum. Bereits das individuelle Erscheinungsbild jenseits von Standardlayouts hebt den Blog von der breiten Masse ab. Relevant ist Popnutten aber, weil regelmässig und pointiert das aktuelle Musikgeschehen kommentiert wird.
Passion. Das Beispiel Popnutten zeigt die doppelte Entwicklung auf, welche die Blogszene durch- und ausmacht. Die vier Macher des Blogs haben keinerlei journalistischen Hintergrund; was sie nach eigener Auskunft verbindet: «Die Passion für gute Musik und dass wir alle Studenten mit zu viel Zeit sind». Sie beteiligen sich als Laien an der Berichterstattung über Musik und betreiben damit einen von Tausenden von Musikblogs, die von Laien geschrieben werden und die dafür sorgen, dass Neuigkeiten über Musik blitzschnell um den Erdball gehen. Auf der anderen Seite steht Popnutten für die Professionalisierung in der Blogszene. Mehrere Schreiber haben sich zu einer Art Redaktion zusammengeschlossen und stellen ein ernst zu nehmendes, viel beachtetes Online-Medium her.
Einfluss. Es sind diese profilierten Blogs, welche die Speerspitze des aufstrebenden Mediums darstellen. In den USA, wo der Trend seinen Ursprung hat, gibt es bereits zahlreiche einflussreiche Musikblogs. Im deutschsprachigen Raum dagegen ist die Landkarte noch dünn besiedelt und hat in der Schweiz einen grossen weissen Fleck. Es scheint, als trauten die Eidgenossen dem Medium noch nicht richtig. Nicht jeder denkt an einen grossen Redner, wenn er eine leere Bierkiste vor sich sieht.