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Anschluss gesucht

February 5, 2008 (updated on October 24, 2009)

Wie ist das eigentlich, wenn man vom Internet keine Ahnung hat? Zu Besuch in einem Kurs für Anfänger

Von David Bauer

Medium: SonntagsZeitung
Ressort: Multimedia
Datum: 3. Februar 2008

Seine Hände bewegen sich suchend über der Tastatur des Computers. Die Daumen sind angeschwollen. Ab und an senkt sich einer der kräftigen Zeigefinger auf die gewünschte Taste hinab, wie ein Adler, der seine Beute gesichtet hat, nur behäbiger. Rhythmisch schweift sein Blick zwischen Bildschirm und Tastatur auf und ab. Daniel schreibt eine E-Mail. Zum ersten Mal in seinem Leben.

In der Migros Klubschule Business in Luzern, Zimmer 311, sind zwölf Flachbildschirme in drei Reihen aufgestellt. Neonlicht strahlt kühl von der Decke, man hört die Belüftungspropeller der Rechner rauschen. An diesem Donnerstagmorgen lernen fünf Frauen und vier Männer, wie man mit dem Internet umgeht. «Internet 50+» heisst der Kurs, die meisten Teilnehmer sind schon älter als sechzig. Kosten: 350 Franken.

Heute ist der letzte von vier Kurstagen, drei Lektionen E-Mail stehen auf dem Programm. Der Kursleiter ist 57 Jahre alt. Daniel ist 47. «Ich war bisher ein vollkommener Internet-Banause», wird Daniel in der Pause sagen. Aber jetzt, jetzt müsse er es auch endlich mal lernen. «Denn wer es nicht kann, ist weg vom Fenster.» Daniel schaut auf den Bildschirm, die Augen hinter seiner Brille leicht zusammengekniffen. Die Empfängeradresse hat er eingegeben, das «@» mit überkreuzten Händen, nun macht er sich daran, «Töffausflug» in die Betreffzeile zu schreiben. Der Rentner mit dem schlohweissen Haar, der in der Reihe vor ihm sitzt, hat bereits die Hände unter dem Kinn zusammengefaltet und wartet, die beiden Frauen mit den Handtaschen plaudern im Flüsterton. Daniels Tischnachbar, er ist 75, bläst die Backen auf und streicht mit der rechten Hand über den weissen Bart. Auch er kämpft noch mit der Betreffzeile.

Jeder Vierte ist weder beruflich noch privat im Netz unterwegs

Sie gehören zu einer Minderheit in der Schweiz: diejenigen, die das Internet noch nicht nutzen. Über drei Viertel der Menschen sind mittlerweile beruflich oder privat im Internet unterwegs.
E-Mails zu schreiben, die meistgenutzte Anwendung, ist längst Alltag geworden. Man diskutiert über Social Networks, YouTube und Web 2.0. Dabei geht vergessen: Einige sind von dieser Entwicklung ausgeschlossen.

Der digitale Graben, der ungleiche Zugriff auf die modernen Kommunikationsmedien, verläuft nicht nur zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Er trennt auch unsere Gesellschaft in solche, die Anschluss haben und solche, die keinen Anschluss haben.

Marianne, die eine Dame mit Handtasche, ist keine Anfängerin. «Ich könnte den Kurs wahrscheinlich selber leiten.» Sie begleite nur ihre Kollegin und nutze die Gelegenheit, um gemütlich zu repetieren. Zwischendurch schreibt sie auch mal per GMX eine E-Mail an ihren Mann, während die anderen noch mit den Tücken des E-Mail-Programms kämpfen. Auch Gerhard, 68, ist kein absoluter Internetneuling. Er sitzt im Kurs, weil er noch ein paar neue Tipps erhalten will. «Ich möchte wissen, wie man Gutes von Schlechtem trennen kann im Internet.»

Daniel fängt im Kurs von vorne an. Die IV bezahlt ihm den Kurs als Umschulung. Es war vor drei Jahren, wann genau weiss er nicht mehr, als um vier Uhr morgens dieser stechende Schmerz unter dem Brustbein kam. Der dann auch in die Schulter und den linken Arm ausstrahlte. Erst am Morgen geht er zum Arzt. Diagnose: Herzinfarkt, aber Glück gehabt. Monate später hat er einen weiteren Herzinfarkt. Seine Karosserie-Spenglerei mit sechs Mitarbeitern muss er aufgeben.

Heute ist er im Stundenlohn als Spengler und Fahrer angestellt. Doch die körperlich anstrengende Arbeit macht ihm zunehmend Mühe. Jetzt müssen Internet-Kenntnisse her. Er will in das Geschäft seines Chefs einsteigen. Unfallautos von Schweizer Versicherungen kaufen, reparieren und ins Ausland weiterverkaufen. Die Versicherungen versteigern die Autos – im Internet.

Vorne fragt eine Frau, ob E-Mailen gefährlich sei

Per Knopfdruck übernimmt der Kursleiter die Herrschaft über alle Bildschirme und unterbricht die Aufgabe. Daniel und sein Nachbar heben gleichzeitig den Kopf und blicken nach vorne. Peter Zurfluh, der Kursleiter, erklärt in breitem Luzerner Dialekt die Vorteile der elektronischen Post: Man kann die Post jederzeit absenden, man kann sie jederzeit empfangen – und das alles bequem von zu Hause aus. Er warnt aber auch: Es gebe Leute, die E-Mail-Adressen sammelten, um dann «Schpämm» zu verschicken. Die Frau in der ersten Reihe fragt, ob es also gefährlich sei, E-Mails zu verschicken?

Um 11.55 ist der Kurs zu Ende. Schlussapplaus. Die Teilnehmer verlassen den Raum und gehen zum Lift. Daniel bleibt im spärlich beleuchteten Gang stehen, telefoniert mit seinem Chef. In der Hand hält er ein schmuckloses Blatt Papier: die Kursbescheinigung.

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