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«Fotografie an sich ist mir egal»

May 8, 2008 (updated on December 21, 2021)

Der britische Fotograf Tim Hetherington gewann mit seinem Bild eines erschöpften US-Soldaten in Afghanistan den World Press Photo Award. Ein Gespräch über das Arbeiten im Krieg, das nach Hause kommen – und warum Fotografie eigentlich ganz einfach ist.

Mit Tim Hetherington sprachen Olivia Kühni und David Bauer.

Tim Hetherington, erinnern Sie sich an den Tag, an dem das Bild entstanden ist?
Ja. Es war ein unglaublich intensiver Tag. Die Gruppe war schon zwei Mal angegriffen worden, alle waren erschöpft. Ein Soldat hatte sich das Bein gebrochen. Später erfuhren wir über Funk, dass die Taliban neue Waffen erhalten hatten. Wir waren, gelinde gesagt, besorgt.

Als Sie das Bild machten, wussten Sie sofort, dass es gut ist?
Sagen wir, ich war zufrieden damit. Ich erinnere mich, dass ich es gleich danach dem Reporter zeigte, der mich begleitete, und sagte, dass ich das Bild mag. Und er sagte, stimmt, es ist echt gut.

World Press Photo of the Year 2007, Tim Hetherington, UK, für Vanity Fair

Das Siegerfoto: American soldier resting at bunker, Korengal Valley. World Press Photo of the Year 2007, Tim Hetherington, UK, für Vanity Fair

Ihr Bild reist jetzt mit der Ausstellung durch ganz Europa. Sie selber sind so schnell wie möglich nach Afghanistan zurück gefahren. Warum?
Weil es eine unglaubliche Erzählung ist, in die ich da hineingeraten bin. Es ist die Geschichte einer Gruppe Soldaten im extremsten Winkel Afghanistans, und sie ist noch nicht zu Ende erzählt.

Wie geht sie weiter?
Das weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass wir mittendrin sind. Die Geschichte dreht sich um diese Männer und was aus ihnen wird. Wir bleiben, solange sie bleiben. Es ist eigentlich eine offensichtliche Idee, dass man eine Gruppe Soldaten in diesem Krieg begleitet. Aber niemand hatte das zuvor gemacht.

Sie leben mit diesen Soldaten, essen mit ihnen, schlafen in ihrem Lager, begleiten sie in den Kampf. Sie sehen und erleben alles mit. Hilft es Ihnen, eine Kamera dabei zu haben?
Absolut. Weil ich einen Job zu erledigen habe. Hätte ich da draussen keinen Job zu erledigen, wüsste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Soll ich mich etwa hinter einem Baum verstecken? Jeder hat eine Aufgabe dort, ich habe meine.

Begreifen Sie mitten im Kampf, dass auf Sie geschossen wird?
Ja, schon. Es ist gefährlich, und doch ist es seltsam, wie das plötzlich etwas ganz Abstraktes wird, eine abstrakte Idee.

Sie wissen, was passiert, aber Sie fühlen es nicht?
Ja, weil man sich auf etwas anderes konzentriert. Die Bilder zu machen, die Aufgabe zu erledigen. Es ist dasselbe für die Soldaten. Das Kämpfen ist für sie manchmal etwas sehr Abstraktes. Sie denken an die Deckung, an die Winkel, daran, wer wo steht und wen deckt. Man sitzt nicht da und denkt daran, dass man jetzt erschossen werden könnte. Man funktioniert.

Was geht einem durch den Kopf?
Ich glaube, die Soldaten versuchen, überhaupt nicht nachzudenken. Es ist ein sehr hartes Leben. Man schläft irgendwo draussen, es gibt weder Strom noch Wasser, man wird beschossen und einige Freunde sind tot. Was tut man in so einer Situation? Man schrumpft die Tage zusammen. Konzentriert sich nur auf den nächsten Schritt. Wozu tue ich das? Wie kommen wir voran? Ist es das wert? Solche Fragen würden die Soldaten nur in den Wahnsinn treiben. Nein, es geht nur um das Hier und Jetzt: Ich baue diese Mauer, ich erledige mein Kämpfen, ich esse meine Vorräte, ich gehe ins Bett und träume von meiner Freundin. Das reicht.

Was möchten Sie mit Ihrem Bild bei den Betrachtern auslösen?
Es steht mir nicht zu, von Menschen zu erwarten, dass sie dieses oder jenes tun. Ich will nur, dass sie über Dinge sprechen. Das Bild hat starke Diskussionen ausgelöst, über den Krieg, über Afghanistan, über den Journalismus im Krieg. Diese Kontroverse darüber, was der Krieg mit Menschen macht, ist der Grund, wieso ich Bilder mache.

Was macht der Krieg mit Menschen?
Er verändert etwas, das ist offensichtlich. Ich meine, was macht das Leben mit einem? Sie kennen die Antwort auf diese Frage. Es macht eine Menge unterschiedlicher Dinge.

Hat der Krieg verändert, wie Sie über Menschen denken?
Nicht nur der Krieg tut das. Der Umgang mit Brutalität beschädigt etwas in einem. Sie werden nicht durch die Strassen gehen und denken, das Leben ist einfach wunderbar, alles ist grossartig und gut. Nein. Menschen bringen einander um.

Wohin gehen Sie, wenn Sie aus diesen extremen Situationen nach Hause kommen möchten?
Ich führe mein Unternehmen. Ich habe eine Wohnung in London, ein Studio, eine Assistentin, meine Computer. Ich bezahle meine Steuern dort.

Wenn Sie heimkehren, was passiert dann mit den Bildern, den Gedanken in Ihrem Kopf?
Das ist sehr privat. Das muss nur ich wissen. Sie haben Recht, es passiert etwas. In jeder emotionalen Situation laufen diese Prozesse ab. Geschieht das bei mir auch? Ja. Will ich darüber reden? Nein.

Wie finden Sie zurück, in die normale westeuropäische Stadt?
Es ist enorm wichtig für mich, Leute um mich zu haben, die keine grosse Geschichte aus meinem Beruf machen. Ich habe keine Lust mich mit Leuten abzugeben, die mich als den grossen Kriegsfotografen darstellen, ich habe kein Interesse an diesem Heldenmythos. Ein Kriegsfotograf kann ein verquerer Idiot sein. Ein richtiges Arschloch. Ich persönlich will einfach ein normales Leben haben, zu dem ich zurückkehren kann. Mit meiner Freundin einkaufen gehen, mir Sorgen um die Hypothek machen. Diese Dinge sind wirklich wichtig für mich. Sie sind die Fundamente des Lebens, die alle Menschen teilen. Das Letzte was ich will, ist, mich selber aus der Gesellschaft auszugrenzen.

Werden Sie nervös, wenn Sie zu lange in London bleiben?
Nicht nur in London. Wenn man zu lange in einer Situation verharrt, kann man nicht mehr klar sehen. Die Idee des Exils, innerlich und äusserlich, ist essenziell für meine Arbeit. Es ist wichtig, dass ich etwas erforsche – ganz, ganz nah bin – es spüre und atme und rieche, dann aber wieder rausgehe und darüber nachdenke. Habe ich das wirklich gedacht? Ist das tatsächlich wahr? So entsteht die beste Arbeit.

Welche Art von Arbeit fasziniert Sie?
Ich interessiere mich für das Extreme menschlicher Erfahrungen. Es ist spannend zu sehen, wie Menschen in einer völlig fremdartigen, psychologisch extremen Situation zurechtkommen. Vielleicht ist das so, wie ich mich auf dieser Welt fühle, und darum erforsche ich auch mein eigenes Fremdfühlen. Fotografie an sich ist mir eigentlich egal. Sie ist mein Mittel, die Welt zu erforschen und Diskussionen anzuregen.

Dieser starke Wunsch, die Welt zu verstehen, war das ein Thema bei Ihnen zuhause?
Das ist ein guter Punkt. Ja, ich denke wohl, dass das so war. Meine Mutter hatte ein sehr interessantes Leben. Als sie aus der Schule kam hatte sie kaum Qualifikationen, sie arbeitete als Pflegerin. Als ich neun Jahre alt war, ging sie zurück an die Schule, holte ihren Abschluss nach, ging an die Uni und schloss ein Englischstudium ab. Dann studierte sie noch Jura und wurde Anwältin. Sie war mental sehr stark. Und sie war politisch interessiert, nicht aktiv, keine Marxistin oder so etwas, aber besorgt um die Welt und die Zukunft ihrer Kinder.

Hat Sie mit Ihnen über Politik gesprochen?
Wenig. Ich lag einfach unter ihrem Tisch, während sie gelesen hat. Kinder saugen solche Dinge auf, sie verinnerlichen sie, man muss sie ihnen gar nicht gross erklären. Es ist einfach da.

Wieso haben Sie angefangen zu fotografieren?
Nach der Uni bin ich lange alleine gereist. Mit 21 habe ich fast zwei Jahre in Indien und Pakistan gelebt. Das hat für mich die Welt geöffnet. Als ich dann zurückkam nach England habe ich den Film „Sans Soleil“ von Chris Marker gesehen. Dieser Film hat mich extrem beeinflusst. Ich wusste von da an, dass ich Bilder machen wollte. Filme zunächst, weil Chris Marker ein Filmer war. Also habe ich mich an der New York Film School beworben, mit den Bildern, die ich auf meinen Reisen gemacht hatte. Die waren aber wirklich schlecht, und sie haben mich nicht genommen.

Also sind Sie Fotograf geworden.
Ja, irgendwer hat mir das empfohlen, und ich dachte, warum nicht? Fotografie ist einfach. Man nimmt sich eine Kamera und zieht los.

Alle prämierten Bilder des World Press Photo Awards sind vom 8. – 29. Mai im Papiersaal (Sihlcity) ausgestellt. Mo.-Fr. 12-20h, Sa.-So. 12-18h. Eintritt Fr. 9.-

ZUR PERSON
Tim Hetherington wurde 1970 in Liverpool geboren. Heute arbeitet er von London und New York aus als freier Fotograf, unter anderem für das US-Magazin Vanity Fair. Viele seiner Arbeiten entstanden in Kriegs- und Krisengebieten. Die diesjährige Auszeichnung mit dem World Press Photo Award war bereits seine dritte, allerdings die erste in der Hauptkategorie. Neben der Fotografie betätigt er sich auch vermehrt als Filmemacher. www.timhetherington.com

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