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Teheran probt die Revolution in 140 Zeichen

July 18, 2009 (updated on October 24, 2009)

Für iranische Oppositionelle ist Twitter der wichtigste Kontakt zur Welt

Von David Bauer

Medium: SonntagsZeitung
Ressort: Multimedia
Datum: 21.06.2009

Der Ritterschlag kam per E-Mail. In Teheran stand der vierte Tag der Grossproteste gegen die Wiederwahl von Präsident Ahmadinejad an, als das US-Aussenministerium am Montagnachmittag mit einer dringenden Bitte an den Kurznachrichtendienst Twitter gelangte. Twitter dürfe keinesfalls mitten während der Demonstrationen offline gehen, wie es wegen dringenden Wartungsarbeiten am System geplant war. Zu wichtig sei der kalifornische Kurznachrichtendienst als Kommunikationsmittel in der aktuellen Situation im Iran.

Das E-Mail aus dem Aussenministerium unterstrich bloss, was sich bereits in deutlichen Konturen abgezeichnet hatte. Twit-ter, gerne verschrien als Umschlagplatz Abertausender Nichtigkeiten, ist für Iraner in den letzten Tagen zur wichtigsten Verbindung zur weiten Welt geworden. Über 200 000 Kurzmeldungen zum Thema Iran wurden laut Trendrr.com in Spitzenzeiten pro Stunde versandt. Oppositionelle kommunizieren untereinander über die 140-Zeichen-Nachrichten und senden Informationen in die Welt hinaus, wo sie schneeballartig weiterverbreitet werden. Die Verantwortlichen von Twitter verschoben die Wartungsarbeiten in die persische Nachtzeit.

Nicht nur Twitter, sämtliche Kommunikationsdienste des Web 2.0 nehmen in der aktuellen Situation im Iran eine wichtige Rolle ein. Die Berichterstattung von Journalisten ist stark eingeschränkt, Übertragungssatelliten ausländi- scher Fernsehstationen wurden gezielt überlastet. Amateurvideos, Fotos und Berichte von Augenzeugen, übermittelt via Youtube, Flickr, Facebook und Twitter, können derzeit am ehesten ein Bild davon zeichnen, was sich in Teheran tatsächlich abspielt.

Twitter ist dank dezentraler Struktur schwer kontrollierbar

Ahmadinejads Regime ist bemüht, die Verbreitung solcher Informationen zu behindern. Zahlreiche Internetseiten sind aus dem Iran nicht mehr erreichbar. Youtube gab an, dass die Besucherzahlen aus dem Iran um 90 Prozent eingebrochen sind. Blogs werden nur freigeschaltet, wenn sich die Autoren mit Name bei den Behörden registrieren.

Auch die Website von Twitter ist gesperrt – der grosse Vorteil des Dienstes ist allerdings, dass ihm das nicht viel anhaben kann. Ein Grossteil nutzt Twitter mit einem der über hundert Drittprogramme, viele auch via das Mobiltelefon. Diese dezentrale Struktur macht Twitter schwer kontrollierbar und damit zur Lebensader iranischer Kommunikation. Und zum wohl ersten Web-2.0-Dienst, dem von offizieller Stelle in den USA weltpolitische Bedeutung zugesprochen wird.

Kritische Stimmen, etwa ein Re- porter des Magazins «Business Week», halten die Bedeutung von Twitter im Iran für überschätzt. Die Leute vor Ort würden weiterhin vor allem klassisch kommunizieren und mobilisieren: via SMS und einfachem Weitersagen. Tatsächlich liegt das Verdienst von Twitter wohl eher darin, dass es die Verbindung zur Aussenwelt ermöglicht. Damit wurde eine Welle der Solidarität in der Internetgemeinde ausgelöst und Aufmerksamkeit für den Konflikt geschaffen, wie sie sonst kaum zustande gekommen wäre. Das globale Internetdorf bietet auch technische Unterstützung. Die grösste Download-Suchmaschine der Welt, The Pirate Bay, hat sich kurzerhand in The Persian Bay umbenannt und ein sicheres Diskussionsforum für Iraner eingerichtet. Auf der ganzen Welt wurden sogenannte Proxys eingerichtet, Server, mit denen technisch versierte Iraner die Zensur im Land umgehen können. Die iranischen Behörden sind zwar bemüht, auch den Zugang zu den Proxys zu sperren, doch kämpfen sie gegen eine Hydra. Jeder gesperrte wird durch zwei neue ersetzt.

Twitter seinerseits hat ein Zeichen setzen können, dass es bisweilen tatsächlich seinen eigenen hohen Ansprüchen gerecht werden kann. Im Februar hatte Twitter-Mitgründer Biz Stone zur SonntagsZeitung gesagt: «Mit Twitter können sich Menschen gegenseitig helfen, indem sie sich mit Informationen und Neuigkeiten versorgen – nicht nur im Alltag.» In der Ausnahmesituation von Teheran hat Twitter seine Reifeprüfung bestanden.

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