Die SonntagsZeitung: Ein Print-Riese im digitalen Tiefschlaf
December 28, 2010
Bei keinem anderen Schweizer Medium stehen Stärke der Marke und Schwäche der Onlinepräsenz in einem so krassen Gegensatz wie bei der SonntagsZeitung. Ein ungefragter, dringender Ratschlag an meine ehemaligen Arbeitskollegen:
Die aktuelle Situation
Die SonntagsZeitung ist eine der meistgelesenen Zeitungen der Schweiz, erreicht pro Ausgabe durchschnittlich 771.000 Leserinnen und Leser (Quelle: WEMF). Die Website der SonntagsZeitung lockt pro Monat 71.000 Besucher an, welche die Seite durchschnittlich zweimal besuchen (Quelle: NET Metrix November). In einem Monat mit fünf Sonntagen bedeutet dies, dass die gedruckte Zeitung rund 3.8 Millionen Mal gelesen wird, die Website 0.14 Millionen Mal, um Faktor 27 weniger (in einem Monat mit vier Sonntagen beträgt der Faktor 22). In Worten: Das Potenzial SonntagsZeitung liegt im Netz brach. Ein Blick auf die Website erklärt, weshalb.
Zunächst einmal entspricht Aufmachung und Lesefreundlichekeit nicht dem, was man heute von einer Nachrichtenwebsite erwarten darf. Das Hauptproblem liegt aber in der Content-Strategie. Einzelne (scheinbar zufällig ausgewählte) Inhalte aus der Zeitung werden jeweils in der Nacht auf Sonntag online gestellt. Sie bleiben eine Woche lang über die Navigation abrufbar. Danach sind die Inhalte noch über den Direktlink zu finden, allerdings auch nur gut einen Monat. Zusätzlich zu den eigenen Inhalten werden laufend automatisch Meldungen der Schweizerischen Depeschenagentur SDA in die Website gespiesen. Dies hat den unangenehmen Nebeneffekt, dass die Suchfunktion praktisch unbrauchbar wird, da die Resultate von den SDA-Meldungen dominiert werden. Ein Archiv sämtlicher Artikel ist nur für Abonnenten zugänglich.
Der Denkfehler
Ich kenne die Onlinestrategie der SonntagsZeitung nicht (und zweifle ehrlich gesagt, ob sie bei Tamedia jemand kennt), was aber auffällt: Die jetzige Strategie setzt auf eine Verknappung des (frei verfügbaren) Online-Angebots, vermutlich aus der Überlegung heraus, damit die Printausgabe zu stärken, bzw. zu schützen. Es wird dabei völlig ausser Acht gelassen, dass sich die ökonomische und die inhaltliche Halbwertszeit der Inhalte deutlich unterscheidet. Was ich damit meine: Die direkte Monetarisierung der Inhalte findet innerhalb eines sehr kurzen Zeitfensters statt, nämlich von Sonntagvormittag bis Sonntagnachmittag, wenn die Abonnenten ihre Zeitung erhalten und die Zeitung am Kiosk oder per iPad verkauft wird. Danach sind die Inhalte für die direkte Monetarisierung praktisch wertlos. Niemand kauft am Montag eine Sonntagszeitung. Die inhaltliche Halbwertszeit vieler Artikel ist deutlich länger.
Zum einen sind da die Newsgeschichten, bei denen Sonntagszeitungen ein geradezu obsessives Interesse daran haben, dass sie zitiert werden und bei denen der Anspruch besteht, dass man Themen setzt, die in der folgenden Woche breit diskutiert werden. Der Newswert eines einzelnen Artikels mag am Montag bereits überholt sein, als Ausgangspunkt einer Debatte behält der Artikel aber seine Relevanz. Dies gilt insbesondere auch bei Interviews, die nicht selten öffentliche Diskussionen anstossen. Die Erstpublikation behält ihre Relevanz, solange das Thema aktuell ist.
Zum anderen bietet die SonntagsZeitung in jeder Ausgabe längere Artikel, die über das Wochenende hinaus ihren inhaltlichen Wert behalten: Polit-Analysen, Porträts, Buchkritiken, Reisereportagen, Sonntagsgespräche, um nur einige zu nennen. Solche Artikel lesen sich, wenn sie sachkundig und gut geschrieben sind, auch Wochen oder Monate später noch gut. Manchmal erhalten sie unverhofft neue Bedeutung, wie etwa das lange Interview, das die SonntagsZeitung mit Roman Polanski in Paris geführt hatte, wenige Tage bevor er in der Schweiz verhaftet wurde.
Diesen inhaltlichen Wert, der nach der direkten Monetarisierung am Sonntag übrig bleibt, verschwendet die SonntagsZeitung, indem sie die Texte nicht konsequent im Netz verfügbar macht.
Was die SonntagsZeitung tun sollte
Um ihr Potenzial im Netz zu nutzen, sollte die SonntagsZeitung sämtliche Texte kostenlos online publizieren, spätestens am Sonntagabend, wenn die direkte Monetarisierung der Inhalte ohnehin abgeschlossen ist. Aufgrund der speziellen Lesesituation am Sonntag würde die SonntagsZeitung vermutlich selbst dann nur wenige Print-Leser einbüssen, wenn sie alle Inhalte bereits am Sonntagmorgen online stellen würde. Man nimmt sich am Sonntag Zeit zum Lesen, liest gemeinsam am Frühstückstisch. Die Schwelle, auf den Bildschirm auszuweichen, ist deutlich höher als Wochentags. Man verzichtet auch nicht einfach so auf die (sonntag)morgendliche Zeitungslektüre, nur weil man weiss, dass die Inhalte spätestens am Abend auch online zu finden sind.
Die Website müsste entsprechend so angepasst werden, dass ältere Inhalte leichter zu finden und zu durchstöbern sind. Neben der offensichtlichen Organisation nach Ressorts bietet sich eine Bündelung von Artikeln in übergreifende Themen an. Und selbstverständlich müssten die SDA-Meldungen von der Website verschwinden (damit würden auch jene absurden Situationen vermieden, in denen eine Agenturmeldung zu einem Artikel der SonntagsZeitung auf deren Website zu finden ist, nicht aber der Originalartikel).
Wie die SonntagsZeitung profitieren würde
Indem die SonntagsZeitung ihre Präsenz im Netz ausbaut und damit die Lücke zwischen ihrer Offline-Bedeutung und ihrer Online-Bedeutung zumindest ein wenig schliesst, profitiert die SonntagsZeitung auf verschiedenen Ebenen.
- Sie stärkt ihre Marke, indem sie auch online als kompetentes Medium wahrgenommen wird.
- Sie erschliesst indirekte Monetarisierungsmöglichkeiten durch Online-Werbung, indem sie einen nennenswerten Traffic auf ihrer Website erzeugt.
- Sie erhält Gratiswerbung durch ihre Leser, die Artikel verlinken und über soziale Netzwerke weiterverbreiten.
- Sie stärkt den Status ihrer Autoren und damit des Mediums als ganzes, indem diese in ihren Kernthemen im Netz stärker wahrgenommen werden.
- Sie wird als Quelle direkt zitier- und verlinkbar und stärkt damit ihre Position bei Suchmaschinen und als Inputgeberin für öffentliche Debatten.
- Sie verkauft in letzter Konsequenz mehr Abos, weil sie als Medienprodukt deutlich stärker und konkreter wahrgenommen wird.
Ein Wort zu Social Media
Auch die stetig wichtiger werdene Phäre der Social Media und ihr Potenzial für Inhalteanbieter ignoriert die SonntagsZeitung praktisch gänzlich. Weder bei Facebook noch bei Twitter pflegt die SonntagsZeitung eine offizielle Präsenz (Detail am Rande: Den Twitter-Account @sonntagszeitung hatte ich vorsorglich registriert, als ich noch bei der SonntagsZeitung angestellt war. Inzwischen habe ich ihn der SonntagsZeitung überlassen). Ohne grossen Aufwand könnte hier etwas bewirkt werden. Multimedia-Redaktor Barnaby Skinner macht im Kleinen vor, wie es gehen könnte. Jeweils am Freitag informiert er über seinen Twitter-Account über die Multimedia-Geschichten, die am Sonntag im Blatt sein werden. Eine simple Massnahme, die Nachfrage generiert bei Menschen, die sich möglicherweise wenig für die SonntagsZeitung, jedoch stark für ein bestimmtes Thema interessieren.
Jedes Ressort sollte eine solche Vorschau im Netz anbieten. Und genauso wie die SonntagsZeitung ihre kommende Ausgabe jeweils mit einem Inserat im Tages-Anzeiger anpreist, sollte sie dies bei Facebook tun. Mit Ausnahme von Exklusivgeschichten, die man der Konkurrenz natürlich nicht vorab verraten will, kann man mit solchen Ankündigungen nichts verlieren. Diese Massnahmen funktionierten sogar ohne neue Content-Strategie bei der eigenen Website. Richtig Schwung aufnehmen können die Social Media-Bemühungen der SonntagsZeitung freilich erst dann, wenn sie ihre Inhalte auf der eigenen Website so anbietet, dass die mühelos in die soziale Phäre aufgenommen und dort weiterverbreitet werden können.