Sokrates, hilf!
August 17, 2009 (updated on November 22, 2009)
Ein Tag in den Händen der Entscheidungsmaschine Hunch.com
Von David Bauer
Schon Sokrates wusste: Der Weg, einer Sache auf den Grund zu gehen, führt über kluge Gegenfragen. Nun ist Sokrates leider schon eine Weile tot und kann uns nicht mehr helfen bei unseren alltäglichen Entscheidungen, ganz zu schweigen von den grossen Fragen des Lebens. Der neu lancierte Webdienst Hunch.com, eine «Entscheidungsmaschine» (siehe Kasten), könnte die Lücke füllen.
Auf über 3000 Fragen weiss Hunch bereits Antworten zu liefern. Die Maschine fragt jeweils so lange nach, bis sie weiss, was zu empfehlen ist. Im Gegensatz zur Suchmaschine Bing, die Microsoft auch als Entscheidungsmaschine anpreist, nimmt einem Hunch tatsächlich die Qual der Wahl ab. Was also liegt näher, als sich einen Tag lang voll auf die Entscheidungen von Hunch zu verlassen?
Der Tag beginnt mit dem Blick in den Spiegel: rasieren oder nicht? Ich tippe meine Frage auf der Website ein. Nein, Rasieren macht mir keinen Spass; die letzte Rasur ist weniger als sieben Tage her; Leute, die ich mag, finden Bart gut, antworte ich auf die Nachfragen. Antwort: nicht rasieren. Ich streife mir ein Hemd über (das passt zum Wetter, zu meiner Stimmung und meinen Tagesplänen, sagt die Maschine) und widme mich dem Frühstück: ein Stück Brot und ein Joghurt (leicht, kalt, schnell zuzubereiten).
Je mehr Hunch über mich weiss, desto besser wird es
So weit, so unspektakulär. Das hätte ich mir alles auch selber überlegen können. Gerade das aber ist das wahrlich sokratische an der Entscheidungsmaschine. Sie zwingt einem nichts auf, sie hilft einem auf die Sprünge, indem sie die richtigen Überlegungen anregt. Und Hunch kann noch viel mehr. Erst mal muss ich zur Arbeit. Findet nicht Hunch, wohl aber mein Chef.
Sollte ich vielleicht für Google arbeiten?, frage ich mich unterwegs. Kommt nicht in Frage, weiss Hunch («Hast du einen Stanford-Doktortitel in Computerwissenschaft?»). Im Büro gilt es ernst für die Maschine. Eine Digitalkamera möchte ich mir kaufen, Spiegelreflex, günstiger als 600 Franken, Marke egal. Ob ich ein guter Fotograf sei? Naja, mittelmässig. Die Maschine schlägt eine Sony und eine Olympus vor; beide werden auch in Fachmagazinen gelobt. Zu einer Fülle von technischen Geräten weiss Hunch Rat, ob man sie anschaffen soll und wenn ja, welches Modell.
Die Empfehlungen werden umso besser, je länger ich die Seite nutze und je mehr Hunch über mich weiss. Mit bis zu 1250 Informationen über mich und meine Vorlieben kann ich die Maschine füttern. Mit Geschlecht, Alter und Wohnort, aber auch, ob ich gerne unsterblich wäre (weiss nicht), ob ich unter der Dusche singe (nein, nie) und ob ich einen Papierflieger im ersten Anlauf falten kann (ja, klar). Bevor die Maschine eine Empfehlung ausspuckt, vergleicht sie, ob andere nicht singende Papierfalter sie gut fanden.
Beim Mittagessen (Hunch hat mich zum Inder geschickt) will ich meinen Coiffeur anrufen. Doch Moment, das habe nicht ich zu entscheiden. Tatsächlich findet mein digitaler Vormund, ich könne noch zuwarten mit dem Haareschneiden. Eine Tasse Kaffee darf ich mir aber genehmigen? Ja, ist erlaubt (fühle mich leicht schläfrig, spüre kein Herzrasen).
Eine Freundin brauche ich nicht, aber ein Feierabendbier
Beginne den Nachmittag mit einem kurzen Reality-Check. Ich bin nicht Twitter-süchtig. Ich besitze das richtige Handy, aber das falsche Netbook. Eigentlich sollte ich in den USA leben, oder Portugal. Oder auf Barbados, jedenfalls nicht in der Schweiz. Egal, wo ich lebe, eins sollte ich, bevor ich sterbe, auf jeden Fall noch tun (etwas Herausforderndes, Tod nicht in den nächsten zwanzig Jahren erwartet): ein Buch schreiben.
Die kluge Maschine schreckt auch vor den grossen Fragen des Lebens nicht zurück. Soll ich an einen Gott glauben? Soll ich Sex mit der Ex haben? (zweimal: Nein). Selbst bei delikaten Fragen verblüfft Hunch mit sehr klugen Gegenfragen und kommt zu einer nachvollziehbaren Empfehlung. Deshalb weiss sie auch, ob ich eine Freundin brauche: «You’re in heaven, du brauchst keine» (unter anderem musste ich erklären, welche Musik mir am besten gefällt, und aussuchen zwischen Chris de Burgh, Céline Dion, Scooter und Britney Spears).
Der Feierabend ist noch eine gute Stunde entfernt, da stellt sich langsam die Frage: Soll ich heute früher Schluss machen? Ja, geht in Ordnung, meint die Maschine (sonniges Wetter, keine schlimmen Konsequenzen zu befürchten). Und was soll ich dann tun? Ein Feierabendbier trinken. Hunch ist gut.
Da sitze ich also, völlig fremdgesteuert, bei einem kühlen Turbinenbräu. Eine letzte Frage muss mir meine weise Maschine nach diesem strengen Tag noch beantworten. Sollte ich eine Gehaltserhöhung verlangen? Nein, eher nicht, meint Hunch.
Entscheidungsmaschine
Hunch.com («Intuition») wurde von einer Mitgründerin der Fotowebsite Flickr und einem Team von MIT-Absolventen ins Leben gerufen. Der Dienst hilft beim Fällen von Entscheidungen. Die Alternativen werden dabei schrittweise eingegrenzt, indem der Nutzer Fragen beantwortet, die für die Entscheidung relevant sind. Alle Fragen und Antworten werden von Nutzern erfasst und bewertet, sodass der Dienst stetig dazulernt. Ein Algorithmus kombiniert sie dann so, dass sie zu einer tragfähigen Empfehlung führen. Derzeit werden 80 Prozent aller Ergebnisse von den Nutzern für gut befunden. Angestrebt werden 90 bis 95 Prozent.
Medium: SonntagsZeitung
Ressort: Multimedia
Datum: 19.07.2009