📚

Der neue Zeitungsgeist

October 17, 2009 (updated on December 24, 2009)

Apples Tablet-Computer könnte das Printmedium der Zukunft sein.

Von David Bauer

Die Zeitung der Zukunft liegt als multimediale Allzweckwaffe auf dem Frühstückstisch. Anstatt sie aus dem Briefkasten zu fischen, startet der Zeitungsleser der nahen Zukunft sein iPad, ein überdimensioniertes iPhone von der Grösse eines A4-Blatts. Über eine Applikation ruft er die aktuelle Ausgabe seiner Tageszeitung auf.

Die Zeitung ist massgeschneidert, enthält den Auslandteil der «New York Times», Inland aus der NZZ, Kultur vom «Tages-Anzeiger». Der Lokalteil ist abgestimmt auf den Ort, wo sich der Leser gerade befindet. Zu einzelnen Artikeln gibt es kurze Videos zu sehen, bei allen Artikeln steht, ob ein Bekannter sie bereits gelesen hat und empfiehlt. Selber kann der Leser Artikel abspeichern und an Freunde weiterschicken. Integriert in die Zeitung sind die wichtigsten Nachrichten aus dem Freundeskreis, importiert von Facebook.

Möglich machen soll das Apple mit einem Tablet-Computer. Gerüchte umranken das Tablet seit Monaten, das Netz ist elektrisiert von jeder neuen Fotomontage, wie das Gerät aussehen könnte. Apple gibt sich gewohnt verschlossen, nun aber verdichten sich die Mutmassungen. Das Tablet wird über einen 10,7-ZollTouchscreen verfügen und mit dem gleichen Betriebssystem wie das iPhone laufen. Dies berichtet die Website iLounge, gestützt auf eine Quelle, die schon bei früheren Apple-Produkten frühzeitig richtige Hinweise gegeben habe. Das Gerät soll spätestens am 19. Januar vorgestellt werden und ab Mai oder Juni nächsten Jahres im Handel erhältlich sein.

Dabei wollte Apple-Chef Steve Jobs lange nichts wissen von Tablet-Computern. «Wozu soll das gut sein, ausser dass man damit auf dem Klo im Internet surfen kann?», hatte er seine Entwickler angeherrscht und die Idee eines Tablet-Computers vor sechs Jahren in der Schublade verschwinden lassen. Mittlerweile hat Jobs das Potenzial erkannt und die Entwicklung des neusten Apple-Geräts zur Chefsache erklärt. Für all jene, die gebannt auf das Tablet warten, ein Grund mehr, nichts weniger zu erwarten als Wunderdinge.

Apple ist weder die erste noch die einzige Firma, die mit einem solchen Produkt den Markt aufmischen will. Aber nur ihr traut man derzeit ein revolutionäres Gerät zu. Mit dem iPod hat Apple die Musikindustrie auf den Kopf gestellt, das iPhone ist ein Meilenstein der Mobilkommunikation. Warum sollte Apple nicht mit einem iPad die Medienbranche revolutionieren und die Dreifaltigkeit komplett machen?

«Heiliger-Gral-Syndrom» diagnostiziert die britische Zeitung «The Observer» das Sehnen nach einem mythisch überhöhten Objekt der Begierde. Verfallen sind ihm nicht nur die strenggläubigen Apple-Fanboys. In letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die Apples Tablet zutrauen, die Zeitungsindustrie zu retten. Als das Gerät, das die gute alte Zeitung ins digitale Zeitalter geleitet.

Farbdisplay, Bewegtbilder und Interaktion

Die Idee klingt verheissungsvoll. Die Verlage sparen Druck- und Vertriebskosten, der Leser erhält die Inhalte täglich aufs Gerät gebeamt, zu einem günstigeren Preis. Schon heute können in den USA zahlreiche grosse Printtitel wie die «Washington Post» oder die «Financial Times» auf Amazons Lesegerät, dem Kindle, abonniert werden. Wie viele Leser ein solches Abo für rund 25 Dollar pro Monat gelöst haben, verraten die Verlage nicht – vermutlich, weil es wenige sind. Mitte Oktober wird der Kindle auch in der Schweiz lanciert.

Zwischen Apple und «New York Times» soll es Gespräche geben, um die Traditionszeitung auf den Tablet-Bildschirm zu bringen. Auch mehrere Zeitschriften, angeführt vom «Time Magazine», wollen mit Apple zusammenspannen. Als Lesegerät würde das Tablet in einer ganz anderen Liga spielen als die bisherigen E-Reader, die auf das Lesen von Büchern ausgerichtet sind (siehe Artikel nebenan). Es verfügt über ein Farbdisplay, kann Bewegtbilder darstellen und erlaubt Interaktion. Das schlägt sich auch im Preis nieder. Marktbeobachter gehen davon aus, dass das Tablet zwischen 700 und 900 Dollar kosten wird, mehrere Hundert Dollar mehr als die reinen Lesegeräte.

Für den mobilen Gebrauch ist das Tablet zu gross

Nicht nur der Preis wirft Fragen auf. Was heute Papier trotz aller Schwächen auszeichnet: Es ist handlich, angenehm zu lesen und braucht keinen Strom. Klassische E-Reader versuchen diese Eigenschaften zu imitieren mit elektronischer Tinte, die mit einmaligen Stromimpulsen auskommt und ein ähnliches Lesegefühl wie bedrucktes Papier vermittelt.

Apples Tablet dagegen, wie man es auch dreht, wird mehr Computer sein als irgendetwas anderes. Man liest auf einem Bildschirm und ist vom Akku abhängig. Mit seiner Grösse empfiehlt es sich auch nicht gerade für den mobilen Gebrauch. Wenn das iPad unseren Alltag erobert, wird sein Königreich der Frühstückstisch sein, wo es als multimediales Informationszentum brillieren kann. Komfortabler zu bedienen als ein Smartphone, reichhaltiger als die gedruckte Zeitung.

Eine schöne neue Medienwelt wäre das. Und die Firma Apple würde sich die Hände reiben, wenn sie in ihrem Universum läge. Doch selbst wenn sich das Tablet als ideales Lesegerät für die Zeitung der Zukunft herausstellen sollte, müssten die Verlage erst ein tragfähiges Geschäftsmodell finden. Erste Verlage sind dazu übergegangen, für ihre mobilen Inhalte Geld zu verlangen, in der Schweiz wird die NZZ als Erste diesen Schritt machen.

Immerhin hat das Applikationen-Ökosystem von Apple gezeigt, dass die Leute bereit sind, für gute Anwendungen zu bezahlen. Doch wozu bezahlen, wenn das kostenlose World Wide Web auf dem Tablet nur eine Berührung entfernt ist? Die Antwort ist so banal wie herausfordernd: Die Anwendung muss so unglaublich gut sein, dass man nicht darauf verzichten will. Weil sie angenehmer zu lesen ist, weil man schneller erfährt, was man wirklich wissen möchte, und weil sie Dinge kann, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können.

Bis es so weit ist, bleibt Zeitungspapier geduldig – und die elektronischen Lesegeräte ein Revolutiönchen.

Medium: SonntagsZeitung
Ressort: Multimedia
Datum: 11.10.2008

Hello, nice to meet you. I'm David Bauer. I’m a journalist by training, a product person by conviction, and a generalist at heart. I love complex issues and helping people navigate them. Learn more →

📨 hello@davidbauer.ch 🤝 LinkedIn

Weekly Filet

Make sense of what matters, today and for the future. Every Friday, I send out carefully curated recommendations on what to read, watch and listen to. Trusted by thousands of curious minds, since 2011.

Past work

I have worked for startups and large companies.
As a journalist, strategist, product lead.

I have written stories and strategies.
I have built products and teams.

I have hired, mentored and promoted people.
I have navigated and accelerated transformation.
Pushed for and nurtured culture change.

I have wrangled data and code.
For insights and data visualisations.
Even a series of games.

And a ton of other things that got me excited.

If there’s one thing that runs through it all,
it’s my love for connecting dots and trying new things.

🤝
Neue Zürcher Zeitung, The Guardian, Quartz, Republik, Refind, Livingdocs, Radio Free Europe, Der Spiegel, Das Magazin, Tages-Anzeiger, SonntagsZeitung, TagesWoche, Schweizerische Depeschenagentur, Echtzeit Verlag, MAZ Journalistenschule, TEDxZurich, Bluewin, and some more.

You Don't Know Africa
Challenge Accepted by Republik
Why newsrooms need storytelling tools and what we’ve learnt building them
Klimalabor at Republik
78s – bessere Musik
A story of drinkers, genocide and unborn girls
You Still Don't Know Africa
Wenn Männer über Männer reden, reden Männer Männern nach
How to Be(come) a Happy Newsletter Writer
You Don't Know African Flags
The simple tool we use to decide what stories to work on at NZZ Visuals
Bookshelf
Kurzbefehl - Der Kompass für das digitale Leben
To compete with the web’s giants, news organisations need to become better at sending people away
Vaxillology
How I Learnt to Code in One Year
You deserve a smarter reading list — we are building it
Zum Pi-Tag: Von 3,14159 bis zum derzeitigen Ende von Pi
Milliarden aus der Fremde
Dystopia Tracker
Midterms Results Overview
Euro-Orakel
Dichtestressomat
Wie gut können Sie die Schweiz aus dem Gedächtnis zeichnen?
Never miss any of the most important links, even in a busy week
The End of Journalism in the Digital Age
Vertrauensserie
Lionel Messi
60 Stunden Facebook
Work at the Guardian Data Blog