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Das Gehirn auf Standby

October 25, 2009 (updated on November 19, 2009)

Wie viele Ihrer Freunde könnten Sie noch anrufen, wenn Sie Ihr Handy verloren haben?

Von David Bauer

Ja, haben wir denn den Verstand verloren? Wir googlen statt zu denken. Wir haben Smartphones, die für uns schlau sind. Und unser Gedächtnis haben wir durch elektronische Notizen ersetzt. Alle möglichen Geräte und Programme synchronisieren wir miteinander, bloss unser Gehirn haben wir abgekoppelt.

Niemals, sagt sich der aufgeklärte Geist, würde ich mein Denken an Maschinen auslagern. Doch ein jeder, der sich selber ein wenig beobachtet, wird im Alltag zig Momente finden, in denen wir unser Gehirn nicht mehr benutzen. Kleinigkeiten, die in ihrer Summe den Denkapparat zunehmend in den Standby-Modus versetzen.

Anstatt kurz nachzudenken, was wir eigentlich über Afghanistan wissen, ist sofort Wikipedia aufgerufen. Anstatt ein entfallenes Fremdwort aus dem Gedächtnis hervorzulocken, helfen wir uns blitzschnell mit einem Übersetzungsprogramm auf die Sprünge. Anstatt uns nach dem Weg zu erkundigen, fummeln wir uns durch die Kartenapplikation auf dem Mobiltelefon.

Jedes neue Programm schaltet ein paar graue Zellen aus

Wir schreiben sechs Kurznachrichten hin und her, um uns zu verabreden, weil wir uns die
Mühe nicht machen, kurz nachzudenken, ob es mit einem Anruf getan wäre. Wir brauchen auf dem Rechner einen Passwort-Manager, weil wir uns selber keine merken können. Die Digitalkamera speichert, wann und wo wir unsere Bilder geschossen haben, weil wir es vergessen würden.

Wir haben Maschinen zu unseren Dienern gemacht und übersehen, dass wir uns damit selbst unterworfen haben. All die Geräte, Programme und Anwendungen haben uns zu Getriebenen gemacht, zu unselbstständigen, hirnbetäubten Existenzen. Genauso wie der fremdbewegte Mensch des postindustriellen Zeitalters im Fitnessstudio gegen die Verfettung ankämpfen muss, droht dem digitalen Menschen
inmitten seiner technischen Denkstützen die geistige Erlahmung. Mit jeder Google-Abfrage entziehen wir unserem Gehirn ein Stück Vertrauen, jedes neue Programm schaltet ein paar graue Zellen aus. Das Gehirn aber verliert wie ein Muskel seine Leis-tungsfähigkeit, wenn es nicht regelmässig genutzt wird.

Dann widerfährt einem solcherlei: Letzthin wollte ich einige Freunde zum Geburtstag einladen. Ich habe mich aber nicht hingesetzt und nachgedacht, wen ich alles einladen möchte. Gedankenverloren habe ich meine Freundesliste bei Facebook aufgerufen und mir meine besten Freunde per Ausschlussverfahren in Erinnerung gerufen.

Das Gedächtnis ist geradezu ausser Mode gekommen. Der britische Neuropsychologe Ian Robertson hat in einer gross angelegten Untersuchung herausgefunden, dass junge Menschen, die sich viel auf Technik abstützen, ein schlechteres Gedächtnis haben als die Generation, die ohne Internet und mobiles Telefon aufgewachsen ist. Nur vier von zehn unter Dreissigjährigen konnten wichtige Daten wie Geburtstage von Verwandten nennen. Von den über Fünfzigjährigen dagegen neun von zehn. Wie viele Geburtstage kennen Sie auswendig, und bei wie vielen werden Sie von einer elektronischen Erinnerung überrumpelt? Wie viele Ihrer Freunde könnten Sie noch anrufen, wenn Sie Ihr Mobiltelefon verloren haben?

Traumfabriken wie die von Apple verführen dazu, uns ganz in die Obhut der Technik zu begeben. «Es gibt nichts, wofür es keine Anwendung gibt», hallt das Mantra aus der Werbung. Eine wunderbare neue Welt ist das eigentlich, Technologie erweitert unsere Möglichkeiten ständig. Viele Errungenschaften sind wertvoll, wir können uns glücklich schätzen, in einer Zeit zu leben, in der es sie gibt. Nur: Das alles geht zu schnell. Die Technik entwickelt sich schneller als unsere Fähigkeit, mit ihr umzugehen. Verweigerung bleibt ein Privileg der Abgehängten, also lassen wir uns treiben in einem Strom voller Reize. Wir haben die Kontrolle verloren.

Leistungsfähig und sparsam im Energieverbrauch: Das Gehirn

Der Mensch entfernt sich damit schleichend von sich selber. Die philosophische Anthropologie verstand den Menschen seit Aristoteles’ Metaphysik als «animal rationale», als ein des Vernunftgebrauchs fähiges Wesen. Der Mensch ist Mensch, weil er denken kann. Heute braucht er seinen Verstand immer mehr dazu, sich Dinge auszudenken, die ihm das Denken abnehmen.

Im Wochentakt werden uns neue Computer angepriesen, neue Handys, alles Alleskönner. Täglich verlocken uns Programme und Websites mit dem Versprechen, unser Leben zu organisieren, zu vereinfachen. 1001 Wunder der Technik glänzen vor unseren Augen und lassen uns ausblenden, dass das beste Gadget von allen ein Wunder der Natur ist, mit dem wir alle in einem sozialistischen Akt der Gleichheit von Geburt an ausgestattet wurden: das Gehirn. Über Jahrmillionen entwickelt und optimiert, extrem leistungsfähig und sparsam im Energieverbrauch. Hundert Milliarden Nervenzellen, verbunden über einige hundert Billionen Synapsen, mit einer Speicherkapazität von mindestens dreitausend iPhones. Alles zusammen stosssicher und kratzfest verpackt. Ein Testsieger aller Klassen, noch dazu mit einem bestechend guten Betriebssystem: dem menschlichen Verstand.

Es ist an der Zeit, dieses Potenzial wieder richtig zu nutzen, den Maschinen eine vernünftige Portion menschliches Denken entgegenzuhalten. Unser Handeln wieder stärker selber zu bestimmen. Dafür müssen wir unser Gehirn im richtigen Moment einschalten und als Steuerungsorgan einsetzen. Rufe ich an oder schreibe ich ein E-Mail? Frage ich das iPhone oder mein Gegenüber? Muss ich das wirklich googeln? Wir müssen wieder bewusster entscheiden, welche Aufgaben wir der Technik überlassen und welche wir ganz allein kraft unserer Gedanken lösen können. Müssen wieder den Mut haben, ein paar Sekunden der geistigen Leere auszuhalten, ohne gleich zu unseren ausgelagerten Gehirnen zu greifen. Und wir müssen uns wieder angewöhnen, Dinge in unserem Kopf abzuspeichern. Nicht, weil die Technik böse wäre. Sondern, weil es effizienter ist und uns unabhängiger macht, wenn wir selber denken.

Sonst nämlich kommen wir irgendwann an den Punkt, wo wir mit Descartes erkennen müssen: «Ich denke nicht, also bin ich nicht». Descartes? Ja, den müssten wir dann auch erst googeln.

Medium: SonntagsZeitung
Ressort: Multimedia
Datum: 25.10.2009

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