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Wahlen 2011: Wie gute Berichterstattung aussehen könnte

May 2, 2011

In knapp sechs Monaten wählt die Schweiz ihr Parlament neu. Die Medien haben sich in der Vergangenheit immer stärker von Parteien und Politikern die Themen ihrer Berichterstattung diktieren lassen. Ein konkreter Vorschlag, wie man Wahlkampf-Berichterstattung besser machen könnte.

Bild: naturalbornstupid, bestimmte Rechte vorbehalten.

Der nachfolgende Beitrag ist eine leicht gekürzte Übersetzung des Artikels “The Citizens Agenda in Campaign Coverage” des New Yorker Journalismus-Professors Jay Rosen, den er im August letzten Jahres auf seiner Website veröffentlicht hatte.

Das Bürgerprogramm: In zehn Schritten zu einer besseren Wahlkampf-Berichterstattung

1. Was interessiert die Wähler wirklich?

Stellt den Wählern vier bis sechs Monate vor der Wahl (Anm.: also jetzt!) eine simple Frage. Nicht: “Wen werden Sie wählen?” oder “Welche Partei bevorzugen Sie?”, sondern: “Worüber sollen Parteien und Kandidierende dieses Jahr diskutieren, wenn sie um Ihre Stimme werben?”. Die Idee ist, von den Wählern zu erfahren, worum sich der Wahlkampf aus ihrer Sicht drehen sollte und was sie von den Parteien und Kandidierenden erfahren müssen, um bei der Wahl eine fundierte Entscheidung treffen zu können.

2. Recherche auf allen Kanälen

Um diese Antworten zu finden, werdet ihr alle Möglichkeiten ausschöpfen müssen, die eine moderne Redaktion kennt. Verlagert das Budget eurer Wahlberichterstattung weg von den klassischen Wettlauf-Umfragen (Wer liegt gerade vorn?) und investiert in ein Bürgerprogramm. Schickt eure Reporter raus, lasst sie mit Wählern sprechen – vielen Wählern. Befragt Leute, die aufgrund ihrer Tätigkeit von einer bestimmten Gruppe von Menschen wissen, wofür sie sich im Wahlkampf interessiert. Organisiert Veranstaltungen, um Antworten zu erhalten. Kündigt öffentlich an, dass ihr ein Bürgerprogramm zusammenstellt, das eure Berichterstattung über die Wahlen leiten soll, und dass ihr von jedermann und jederfrau hören wollt, was sie beschäftigt. Ermöglicht allen, über den Kanal mit euch in Verbindung zu treten, der ihnen am besten passt. Sei das über ein Onlineformular, per E-Mail oder Sprachnachricht, Kommentare zu einem Blogposting, bei Facebook oder Twitter. Bewerbt die Aktion, in der Zeitung und on air, in Kaffees und Einkaufszentren.

3. Beraternetzwerk

Wenn ihr auf diese Art auf die Bevölkerung zugeht, so werdet ihr auf einige Menschen stossen, die sich besonders stark für euer Unterfangen interessieren. Bietet diesen Leuten an, einem Beraternetzwerk beizutreten, dessen Aufgabe darin besteht, bei der Ausarbeitung des Bürgerprogramms mitzuhelfen und sicher zu stellen, dass es tatsächlich die Anliegen der Menschen widerspiegelt. Setzt euch zum Ziel, jeden zehnten Inputgeber als Berater zu rekrutieren, im Wissen, dass es am Ende weniger sein werden.

4. Sechs bis zehn Schwerpunkte

Erstellt basierend auf allen Inputs, die ihr in Schritt 2. gesammelt habt, einen ersten Entwurf für das Bürgerprogramm. Dieses sollte in Form von sechs bis zehn Schwerpunkten daherkommen, die ihr idealerweise als Fragen mit einer Länge von maximal 50 Wörtern ausformuliert. Ein Beispiel aus dem Wahlkampf für das Amt des Gouverneurs von New York.

Unsere Schulen sind nicht gut: Die Schulen von New York geben mehr Geld pro Schüler aus als jeder andere Staat. In der Rangliste der Schulabsolventen steht New York aber auf dem 40. Platz aller Staaten. Warum ist das so und wie können wir daran etwas ändern? (46 Wörter)

Wenn ihr glaubt, eure sechs bis zehn Schwerpunkte widerspiegeln, was an euch herangetragen wurde, lasst das Beraternetzwerk Feedback geben, ob ihr richtig liegt. Gebt den Beratern die Möglichkeit, Schwerpunkte zu ergänzen, die ihr nicht auf die Liste gesetzt habt. Lasst jeden Berater ausserdem die Schwerpunkte gewichten, indem er total 100 Punkte auf sie verteilt. Passt den Entwurf anschliessend an und ordnet die Schwerpunkte nach ihrer Wichtigkeit.

5. Publizieren, optimieren

Veröffentlicht die Liste als euer Bürgerprogramm 1.0 drei Monate vor den Wahlen. Betont dabei, dass es noch nicht definitiv ist, dass ihr die Bedürfnisse der Bevölkerung korrekt abbilden wollt und dass ihr gerne Feedback (wiederum über alle Kanäle) entgegen nehmt. Version 2.0 wird zwei Monate vor der Wahl veröffentlicht, Version 3.0 einen Monat vor der Wahl. Dazwischen solltet ihr das Bürgerprogramm laufend überarbeiten, an Formulierungen feilen, allenfalls fehlende Schwerpunkte ergänzen und falls nötig die Prioritäten der Schwerpunkte umstellen.

6. Das Bürgerprogramm als Leitfaden

Von dem Moment an, da die erste Version veröffentlicht ist, ist das Bürgerprogramm euer Leitfaden und Haupt-Erzählstrang für die Wahlberichterstattung. Wenn ihr mit Parteivertretern oder Kandidierenden sprecht, stellt die Fragen aus dem Bürgerprogramm. Reporter sollen bei den Themen tiefer graben, die auf der Bürgerprogramm stehen. Hintergrundberichte und ausgiebige Recherchen sollen auf dem Bürgerprogramm aufbauen. Nutzt das Bürgerprogramm auch als Leitlinie, wenn es darum geht, Ressourcen am richtigen Ort einzusetzen – es ist eine Handlungsanweisung für die Ausgestaltung eurer Wahlberichterstattung in all ihren Facetten.

7. Die Bürger bestimmen die Themen

Das Bürgerprogramm ist, was es besagt: eine von Bürgern bestimmte Liste von Anliegen an die Politik und erklärten Prioritäten. Das Ziel der Wahlkampfberichterstattung muss sein, ernsthafte Diskussionen über diese Themen anzuregen – unter den Kandidierenden, unter Journalisten, politischen Beobachtern und der Öffentlichkeit. Der Journalismus im Wahljahr ist erfolgreich, wenn er das Bewusstsein für die Schwerpunkte des Bürgerprogramms schärft, Klarheit und Wissen schafft und die Qualität des öffentlichen politischen Diskurses steigert. Er scheitert, wenn er zulässt, dass Themen totgeschwiegen werden, dass Verwirrung gestiftet wird oder Gleichgültigkeit und Populismus die Oberhand gewinnen. Selbstverständlich sollen sich die Medien nicht in eine Entscheidung einmischen, die in den Händen der Wählern liegt. Und natürlich gelten die journalistischen Grundgebote der Fairness und Genauigkeit. Das Bürgerprogramm aber, das steht. Und Journalisten sollten nicht zögern, ihre Arbeit daran zu orientieren und dafür Partei zu ergreifen.

8. Schluss mit dem Wettlauf-Journalismus

Der grosse Vorteil des Bürgerprogramms als Kern der Wahlberichterstattung ist der, dass es die klassische Wahlkampf-Berichterstattung ersetzt, die uns allen nur zu bekannt ist: Wettlauf-Journalismus, gepaart mit Berichterstattung für Insider. Nehmt das Bürgerprogramm als Chance, das Wettlauf-Narrativ auf ein gesundes Mass zurückzuschrauben, sprich: Es ist absolut in Ordnung ein Auge darauf zu haben, wer vorne liegt und womit die Parteien und Kandidaten zu punkten versuchen. Das gehört zur Politik. Gute Berichterstattung legt aber den Fokus nicht darauf – ganz einfach, weil es den Wählern zu wenig bringt. Ist der Wettlauf-Aspekt einmal auf das richtige Mass zurückgefahren, kann er neben der Hauptberichterstattung etwas Farbe erhalten: Ich würde diesen Teil konkret “Das Spiel” nennen und ihm nicht mehr als 15 Prozent der ganzen Berichterstattung einräumen. Journalisten, denen diese Quote zu tief ist, sind in dieser Wahlberichterstattung fehl am Platz.

9. Standhaft bleiben

Seid auf Konflikte mit Kandidierenden und deren Umfeld vorbereitet. Sie wollen die Wahlen gewinnen, ihre Chancen verbessern, ihre Gegner schwächen. Sie werden alle Register ziehen, um ihre Botschaft in den Vordergrund zu rücken. Wir kennen das Spiel. Darum: Wer es ernst meint mit dem Bürgerprogramm, kämpft gegen jene Kräfte an, die es zu untergraben versuchen. Dafür haben wir die doch Pressefreiheit, oder?

10. Den Nagel auf den Kopf treffen

Damit das Bürgerprogramm funktioniert, müsst ihr es richtig treffen. Die sechs bis zehn Schwerpunkte müssen für die meisten Wähler sprechen, müssen tatsächlich widerspiegeln, was die Wähler beschäftigt. Die Wähler müssen sich im Programm wiedererkennen, von dem ihr behauptet, es sei ihres. Für den Fall, das ihr falsch liegt oder etwas wichtiges vergesst, braucht ihr Rückkanäle, die gut genug sind, euch zu korrigieren. Das Bürgerprogramm muss laufend überprüft und angepasst werden bis ihr wirklich sicher seid, dass ihr den Nagel auf den Kopf trefft. Und selbst dann müssen Bedürfnisse von Minderheiten einbezogen werden, genauso wie Themen, an die die Wähler nicht zuerst denken, die nichtsdestotrotz für ihre Zukunft wichtig sind.

Die alles entscheidende Frage

Auf welche Fragen erwartet die Bevölkerung von Parteien und Kandidierenden im Wahlkampf Antworten, worüber soll diskutiert werden? Wenn ihr nicht in der Lage seid, dies herauszudestillieren und anschliessend als aufrichtiges Produkt eurer Recherche zu verteidigen, dann ist das Bürgerprogramm nicht der richtige Ansatz für euch. Zurück zum Wettlauf.

Die Anekdote zum Schluss

Post-Skript: Das Bürgerprogramm ist als Idee nicht neu. 1992 hat es der Charlotte Observer in der Praxis umgesetzt. Der damalige Chefredaktor des Observers, Richard Oppel, berichtet folgende Anekdote:

Das Bürgerprogramm ist bei den Wählern auf sehr grosses Interesse gestossen…Also sind unsere Reporter auf die Kandidaten für den Senat zugegangen und haben ihnen “die Fragen der Wähler” überbracht. Terry Sanford, der amtierende Senator, rief mich aus Washington an und sagte: “Rich, ich habe von deinem Reporter diese Fragen erhalten. Ich werde sie nicht beantworten, da wir über die Umwelt erst im Hauptwahlkampf sprechen werden (Anm.: Zu diesem Zeitpunkt liefen die in Amerika üblichen Vorausscheidungen innerhalb der Parteien).” Ich antwortete: “Nun, die Wähler interessieren sich aber jetzt schon für die Umwelt, Rich”. Worauf er sagte: “Darauf habe ich meine Kampagne aber nicht ausgerichtet.” “Gut,” sagte ich, “wir veröffentlichen die Fragen, unter jeder hat es Platz für deine Antwort. Wenn du eine Frage nicht beantworten möchtest, werden wir einfach vermerken ‘Möchte nicht antworten’ oder das Feld leer lassen.” Damit war das Gespräch beendet. Zehn Tage später hat er uns die Antworten geschickt.

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