Wir blättern uns noch zu Tode
June 9, 2013 (updated on January 26, 2014)
Die NZZ am Sonntag hat die jüngsten Ereignisse in der Türkei zum Anlass genommen, sich mit der Rolle von sozialen Medien auseinander zu setzen. Gute Idee eigentlich – herausgekommen ist mit «Wir zwitschern uns noch zu Tode» ein vorurteilsbehaftetes, argumentativ schwaches Pamphlet.
Meine erste Reaktion heute früh war diese.
2013. Die «NZZ am Sonntag» hält fest: Twitter ist kein Journalismus und nicht per se gut. webpaper.nzz.ch/2013/06/09/hin…
— David Bauer (@davidbauer) June 9, 2013
Aufgrund zahlreicher Reaktionen und Rückfragen via Twitter habe ich mich entschlossen, den Meinungsbeitrag von Hintergrund-Redaktor Michael Furger Abschnitt für Abschnitt durchzugehen und zu kommentieren.
Wir leben in einer hoffnungsfrohen Zeit. «Jeden Tag werden wir durch Geschichten von Menschen inspiriert, die Twitter nutzen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.» So wirbt der Internet-Dienst Twitter für sich. Twitter gehört wie Facebook oder das Videoportal Youtube zu den sozialen Medien. Das ist jener Teil des Internets, der auf Dialog und Austausch ausgelegt ist. Die Botschaft ist eindeutig: Wer hier mitmacht, rettet die Welt.
Seien es die Proteste in der Türkei oder die freiwillige Hilfe für Flutopfer in Deutschland – dank sozialen Netzwerken, so der Medien-Tenor, finden Menschen zusammen und tun Gutes. Der arabische Frühling soll durch diese Plattformen überhaupt möglich geworden sein. Der Beweis für diese These ist zwar nicht erbracht, aber das spielt offenbar keine Rolle. Zu schön ist der Glaube daran, mit Handys und Notebooks könne man Diktatoren vom Thron stossen.
Der klassische Einstieg eines «Twitter Can’t Topple Dictators»-Artikels, für den es nicht ganz zufällig seit über zwei Jahren einen Genrebegriff gibt. Man konstruiert einen offenbar herrschenden Konsens, hier «Medien-Tenor», gegen den man sich danach als mahnende Stimme der Vernunft positioniert. Man behauptet den Konsens, ohne ihn mit konkreten Beispielen zu belegen. Oder, um den Autor zu zitieren: «Der Beweis für diese These ist zwar nicht erbracht, aber das spielt offenbar keine Rolle.» Der einzige Beleg ist ein Auszug aus Twitters Selbstbeschreibung, wobei dort anderes im Vordergrund steht (Twitter als Echtzeit-Informationsnetzwerk). Dass Twitter selber auf positive Beispiele verweist, ist jetzt nicht dermassen erstaunlich, oder?
Das ist erstens Unsinn. Umstürze gelingen nicht deshalb, weil Menschen die technischen Mittel haben, sich zu organisieren. Da wirken andere Kräfte. In der DDR hatten 1989 nur 10 Prozent der Haushalte ein Telefon. Dennoch gelang es dem Volk, ein System zu stürzen.
So einfach geht das: Zuerst Unsinn konstruieren und dann als solchen bezeichnen. Seit es die These von der Social-Media-Revolution gibt, gab es kluge Texte, die sich kritisch damit auseinander gesetzt haben. Aktuellstes Beispiel mit Türkei-Bezug: Networked Politics from Tahrir to Taksim. Darum läuft auch das DDR-Beispiel ins Leere: Es gibt keinen Konsens, dass Revolutionen und Systemwechsel nur oder primär dank sozialen Medien möglich seien.
Zweitens blendet das Hurra auf die sozialen Medien all die Abscheulichkeiten und den Stumpfsinn aus, die täglich über diese Plattformen in die Welt geblasen werden.
Okay, kommen wir zum Kern.
Es wäre interessant zu erfahren, was Terrorexperten von der Weltverbesserungs-These halten. Nicht nur junge sympathische Aufständische, sondern auch Terroristen nutzen die Plattformen, um sich zu organisieren. CNN deckte kürzlich auf, wie beängstigend gross deren Netzwerke sind und wie schnell sie wachsen.
Er sagt es:
@davidbauer @fst “es wäre interessant […]” – IHR SEIT DIE NZZ, FRAGT DIE DOCH EINFACH! (2/2)
— fin (@fin) June 9, 2013
Es wäre auch interessant zu erfahren, was Sunil Tripathi zur Social-Media-Beweihräucherung sagen würde. Tripathi war einer von zwei jungen Männern, die von einem Polizisten auf einer Foto irrtümlich für die Bombenleger von Boston gehalten wurden. Ein Kameramann hörte mit und twitterte die Namen in die Welt. Auf den sogenannt «sozialen» Medien rottete sich eine Meute zu einer Hetzjagd zusammen. Einer twitterte an die Adresse von Tripathi: «Wenn du gerade auf Twitter bist und siehst, wie wir auf deinen Tod warten, beeil dich, ich will schlafen.» Einige Tage später, der Irrtum war mittlerweile bemerkt, fand man Tripathis Leiche.
Der perfideste Abschnitt des ganzen Artikels – auf dem offenbar auch der Titel basiert. Es wird hier suggeriert, Tripathis Tod stehe in einem Zusammenhang mit der Hetzjagd auf Twitter und anderswo. Dafür gibt es keine Beweise – im Gegenteil. Vermutlich war Tripathi bereits tot, als er fälschlicherweise verdächtigt wurde (zweitletzter Abschnitt in diesem Artikel in der NY Times). Entschuldigt die Hetzjagd nicht, zeigt aber, welcher Tricks sich der Artikel bedient, um seine These zu belegen.
Das Netzwerk Reddit, über das die Jagd vor allem lief, teilt mit, der Nachteil von «Sofort-Journalismus» sei, dass «manchmal Dinge schiefgehen». Die Frage ist, ob der Begriff Journalismus hier richtig ist.
Ich kann das Zitat gerade nicht finden (Update: Philippe Wampfler hat es gefunden), entscheidend sind aber zwei Punkte. 1. Mit «Sofort-Journalismus» meint Reddit kaum (einzig) sich selber, sondern alle, die mehr oder weniger in Echtzeit über die Ereignisse rund um die Attentate in Boston berichtet haben. Nicht nur in sozialen Medien wurden Fehler gemacht und Menschen voreilig verdächtigt (die New York Post, CNN und hierzulande der Blick lieferten nur die gravierendsten Beispiele). 2. Reddit hat, anders als die meisten anderen, sich öffentlich entschuldigt und seine Rolle reflektiert. Ganz abgesehen davon: Gerade das Beispiel Boston hat gezeigt, dass die Rolle von sozialen Medien, anders als zu Beginn des Artikels insinuiert, sehr wohl kritisch reflektiert wird.
Im April erschien auf Facebook ein Video, das zeigt, wie eine junge Frau geköpft wird. Das Netzwerk verzichtete lange darauf, den Film zu löschen, und erklärte, Facebook müsse ein Ort sein, an dem man auf Missstände auch mit Hilfe von drastischen oder verstörenden Inhalten aufmerksam machen könne. Da ist sie wieder: die Pose der Weltverbesserer. Ist es nötig, zu sehen, wie einer Frau der Kopf abgetrennt wird, um den «Missstand» eines Kriegs zu erkennen? Ist es nötig, zu sehen, wie ein syrischer Rebell einem Soldaten das Herz aus der Brust schneidet oder wie tote gefolterte Kinder aussehen? Die Filme sind auf Youtube zu finden. Mit Journalismus hat das wenig zu tun. Diese Schnipsel sind nicht eingeordnet, oft fehlt die Quellenangabe. Den Opfern nehmen solche Aufnahmen jede Würde. Und schliesslich: Wer garantiert, dass Bilder auf sozialen Medien echt sind? Nirgendwo sind Manipulationen einfacher als in öffentlichen Netzwerken.
Der einzige Abschnitt des Texts, der ein tatsächliches Problem benennt. Die Aussage «Mit Journalismus hat das wenig zu tun.» offenbart dann aber wieder das angegriffene Selbstverständnis eines Journalisten. Natürlich sind Primärinformationen kein Journalismus, waren sie nie. Das behauptet aber auch niemand, der klaren Geistes ist. Dass man Informationen aus sozialen Medien journalistisch nutzen und aufbereiten kann und sollte, hat sich bei den meisten als Erkenntnis mittlerweile aber durchgesetzt (da Verifizierung explizit angesprochen wird, sei hier nur auf «Watching Syria’s War» von der New York Times und den Dienst Storyful verwiesen).
Dokumente wie diese mischen sich in den sozialen Medien in bizarrer Weise mit einer Masse aus Geschwätz und Banalitäten aus unserem heilen Alltag. Gerade Twitter dient wahrscheinlich weniger der Rettung der Welt als dem Ego seiner Nutzer, oft Leute mit ohnehin erhöhtem Mitteilungsbedürfnis: Journalisten, Werber, Politiker und Kulturschaffende. Ihre Meldungen zu dem, was ihnen gerade so durch den Kopf schiesst, zirkulieren zum Glück meistens innerhalb dieser Gruppen und damit ausserhalb der breiten Öffentlichkeit.
Voilà, der letzte Satz sagt es selber: Es ist eine Frage des Filterns.
Ärgerlich wird es erst dann, wenn das Geplauder allen zugemutet wird. Der Glaube daran, dass die Netzwerke irgendwann auf jeden Fall einen wirtschaftlichen Nutzen haben werden – auch wenn man oft nicht weiss, welchen –, verleitet vom Medienhaus bis zum Coiffure-Salon alle dazu, dabei zu sein. So lässt zum Beispiel das Schweizer Fernsehen bei Sport- und Musikübertragungen Twitter-Meldungen von Zuschauern über den Bildschirm laufen. Selten gab es etwas Inhaltsleereres im Fernsehen.
Einverstanden. Der Zufall will es, dass ich Anfang Jahr auch darüber geschrieben habe. Es ist allerdings etwas billig, ein einzelnes Negativbeispiel für ein Pauschalurteil zu verwenden. Der Autor könnte ja im eigenen Haus mal nachfragen, da gibt es einige Leute, die sich bemühen, soziale Medien sinnbringend zu nutzen.
Was ist das? Sofort-Journalismus? Ein Beitrag zu einer besseren Welt? Wahrscheinlich ist es nur ein hilfloser Versuch, irgendwas zu tun mit einem Medium, das völlig überschätzt wird.
Ziemlich genau das würde ich zurückfragen.