Überwachung: Niemand ist selber schuld
January 18, 2014
Willkommen im neuen Jahr. Willkommen in der real gewordenen Dystopie der totalen Überwachung. Vor einem Jahr noch, da befürchteten wir, vermuteten, ahnten wir, dass das Internet im grossen Stil zur Überwachung genutzt werden könnte. Heute wissen wir, dass es so ist.
2013 war eine Zäsur für das Internet wie wir es kennen. 2014 muss das Jahr der Antworten werden. Bislang geht die Debatte hierzulande in die falsche Richtung. Überall begegnet man dem «Selber schuld!», mit allen möglichen Untertönen: anklagend, herablassend, zynisch, selbstgerecht, selbstkasteiend, resigniert. Es ist ein falsches, ein gefährliches Fazit.
Ausgerechnet der oberste Datenschützer der Schweiz, Hanspeter Thür, brachte das Argument in der «NZZ am Sonntag» zuletzt exemplarisch vor: «Wer in grossem Umfang weiterhin Daten an Facebook und andere […] übermittelt, kann sich nicht beklagen, wenn sich auch Geheimdienste oder andere Unberechtigte daran gütlich tun.»
Doch, Herr Thür, wir dürfen uns beklagen. Und es ist skandalös, wenn Sie uns das absprechen wollen. Das Recht auf Privatsphäre, auf den Schutz der eigenen Daten, bedeutet nicht, sich abzuschotten. Es bedeutet, selber entscheiden zu können, wem man welche Daten anvertraut. Facebook ist nicht die NSA.
Es mag ein willkommener Nebeneffekt der Enthüllungen von Edward Snowden sein, dass sich mehr Leute Gedanken machen über verschlüsselte Kommunikation und ihre Offenheit im Netz kritisch hinterfragen. Das kann und darf aber nicht die Antwort auf die totale Überwachung sein.
Selbstverteidigung gegen technisch hochgerüstete Geheimdienste ist auf lange Sicht aussichtslos. Und wenn wir uns mehr Privatsphäre sichern im Tausch gegen die Freiheit, so zu kommunizieren – und letztlich: zu leben –, wie wir es im 21. Jahrhundert gewohnt sind, dann verlieren wir, Benjamin Franklin lässt grüssen, am Ende vielleicht gar beides.
Wo wären wir heute, wenn die Reaktion auf die Fichenaffäre gewesen wäre, den Leute zu raten, sich etwas unauffälliger zu verhalten?
Erschienen am 5. Januar 2014 in der SonntagsZeitung