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Amstetten und das Gesicht der Medien

May 4, 2008 (updated on May 12, 2008)

Ob jemand fähig ist, ethisch korrekt zu handeln, zeigt sich oft in Ausnahmesituationen. Das ist bei Medien nicht anders.

Der Fall Amstetten ist so eine Ausnahmesituation. Ein Mann sperrt seine Tochter 24 Jahre lang in ein Verlies, missbraucht sie wiederholt, zeugt mit ihr sieben Kinder.

Medien aus der ganzen Welt fallen in das Dorf in Niederösterreich ein, wie sich Hyänen auf eine leichte Beute stürzen.

Boulevardzeitungen übertreffen sich gegenseitig mit Geschmacklosigkeiten und der Anzahl Seiten, in denen diese ausgebreitet werden. Auch Qualitätsmedien halten sich nur unwesentlich mehr zurück. Namen werden sorglos genannt, Bilder ohne Skrupel gezeigt und jedes neue Detail mit Abscheu genüsslich ausgebreitet. Für das erste Exklusivbild der Opfer wird inzwischen offenbar eine Million Euro geboten, eine Million Euro!, entsprechend aggressiv das Verhalten der Fotografen.

Mit ethischem Handeln hat dies nichts zu tun. Dabei müsste man nicht einmal den dehnbaren Begriff der Ethik verwenden, um hier Grenzen zu setzen. Das Recht tut dies bereits. In der Schweiz ist der Massgebende Gesetzesartikel derjenige zum Persönlichkeitsschutz, Art 28 ZGB.

Aus dem Artikel geht hervor, dass die Persönlichkeitsrechte in medialer Berichterstattung nicht verletzt werden dürfen. Dies betrifft unter anderem das Recht am eigenen Namen und das Recht am eigenen Bild. Das Opferhilfegesetz (SR 312.5) verschärft weiter, indem es für Opfer von Verbrechen einen besonders starken Persönlichkeitsschutz fordert:

Art. 52: “Behörden und Private [=Medien] dürfen […] die Identität des Opfers nur veröffentlichen, wenn dies im Interesse der Strafverfolgung notwendig ist oder das Opfer zustimmt.”

Das Gesetz ist eindeutig. Namen und Bilder der Opfer hätten niemals veröffentlicht werden dürfen, Details des Verbrechens ebensowenig. Gleiches verlangt der Ehrencodex des Presserats, dem sich alle Berufsjournalisten verpflichten. In Punkt 8 der Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten steht:

Die Grenzen der Berichterstattung in Text, Bild und Ton […] liegen dort, wo das Leid der Betroffenen und die Gefühle ihrer Angehörigen nicht respektiert werden.

Warum werden Recht und Ethik missachtet? Warum berichten Medien in dieser Art und Weise? Weil es ein Publikum dafür gibt. Und weil Publikum fälschlicherweise gleichgesetzt wird mit öffentlichem Interesse, welches laut ZGB Art. 282 eine Persönlichkeitsverletzung rechtfertigt.

Es gibt einen Unterschied zwischen öffentlichem Interesse und öffentlicher “Interessiertheit”. Wenn Menschen etwas wissen müssen, um ihre Rolle als mündige, aufgeklärte Bürger in einem demokratischen Staat wahrzunehmen zu können, dann ist es von öffentlichem Interesse. Wenn etwas die Sensationsgier der Menschen anspricht, mögen die Menschen mit Interesse reagieren, ein öffentliches Interesse besteht allerdings nicht.

Die Medien ergözen sich im Fall Amstetten an einem Verbrechen, indem sie es anklagen, und handeln dabei selber verbrecherisch. In dieser Ausnahmesituation zeigt eine Branche ihr wahres Gesicht. Dieses aber druckt niemand auf eine Titelseite.

> Medienlese.com kommentiert in ähnlicher Weise: Zum Artikel “Ohne Gewissen, ohne Moral”

> Kollege Malte Welding aus Berlin wie gewohnt spot on: Zum Artikel “Unvorstellbar”

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