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Ausschaffungsinitiative: Warum ein taktisches Ja zum Gegenvorschlag rein gar nichts bringt (und im schlimmsten Fall sogar schadet)

November 21, 2010 (updated on November 29, 2010)

Nächstes Wochenende stimmt die Schweiz über die Ausschaffungsinitiative der SVP ab. Von linker Seite wurde im Abstimmungskampf immer wieder argumentiert, man müsse aus taktischen Gründen den Gegenvorschlag annehmen, um wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Die Überlegung: Wenn auch der Gegenvorschlag angenommen wird, kann die Ausschaffungsinitiative in der Stichfrage ausgestochen werden.

Doch die Rechnung geht nicht auf. Wenn die Ausschaffungsinitiative angenommen wird, dann gewinnt sie auch in der Stichfrage. Hier kommt die Erklärung:

Update 29.11: Die Abstimmung ist vorbei und ich lag mit meiner Einschätzung falsch. Die Ergebnisübersicht des Bundes zeigt, dass der Gegenvorschlag in der Stichfrage mehr Stimmen erhalten hat (1.270.831 gegenüber 1.252.625) – das Szenario, das die Befürworter eines taktischen Ja im Sinn hatten und das ich als praktisch unmöglich bezeichnet hatte (ein wichtiges Detail: die Initiative hätte aufgrund des Ständemehrs die Stichfrage dennoch gewonnen). Einer genauer Blick auf die Resultate zeigt, dass meine Überlegungen zwar nicht falsch waren, aber einen Faktor nicht berücksichtigt haben: Die Tatsache nämlich, dass eine massgebliche Zahl von Initiativbefürwortern bei der Stichfrage keine Antwort gegeben hat (vermutlich aus Unwissen über das Prozedere). Nur so lässt sich erklären, dass die Initiative in der Stichfrage deutlich weniger Stimmen erhalten hat als bei der Frage nach der Initiative selber. Die Zahl jener, die die Initiative abgelehnt, und jener, die in der Stichfrage den Gegenvorschlag angekreuzt haben, hat sich dagegen – wie von mir vorgerechnet – nur geringfügig verändert. Rund 151.000 StimmbürgerInnen haben sich bei der Stichfrage enthalten. Zieht man jene rund 33.000 ab, die sich schon bei der Initiative enthalten haben und vermutlich komplett leer eingelegt haben, bleiben rund 118.000 StimmbürgerInnen, die wohl grossmehrheitlich der Initiative zugestimmt, die Stichfrage aber leer gelassen haben. Diesen Faktor habe ich in meinen Berechnungen vergessen, was zur Fehleinschätzung geführt hat.

Betrachten wie die aktuellen Prognosen, wie sie das Institut gfs.bern im Auftrag der SRG SSR idée suisse errechnet hat.

Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger teilen sich zunächst in vier Lager:

  • 42 Prozent befürworten die SVP-Initiative und lehnen den Gegenvorschlag ab
  • 13 Prozent befürworten sowohl die SVP-Initiative wie auch den Gegenvorschlag
  • 30 Prozent lehnen die SVP-Initiative ab, befürworten aber den Gegenvorschlag
  • 15 Prozent lehnen sowohl die SVP-Initiative wie auch den Gegenvorschlag ab
  • Daraus lassen sich folgende Stimmresultate ablesen:

  • Die SVP-Initiative wird mit 55 Prozent Ja-Stimmen angenommen
  • Der Gegenvorschlag wird mit 43 Prozent Ja-Stimmen nicht angenommen
  • Die Argumentation lautet nun: Wenn die 15 Prozent, die zweimal Nein einlegen, also gegen die SVP-Initiative sind, ein taktisches Ja zum Gegenvorschlag einlegen würden, dann würde auch der Gegenvorschlag angenommen und die SVP-Initiative könnte in der Stichfrage abgelehnt werden.

    Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass sämtliche 15 Prozent, der zweimal Nein einlegen, sich nun zu einem taktischen Ja zum Gegenvorschlag entscheiden. Neu sähe das Stimmresultat nun so aus:

  • Die SVP-Initiative wird mit 55 Prozent Ja-Stimmen angenommen
  • Der Gegenvorschlag wird mit 58 Prozent Ja-Stimmen angenommen

Bei einem doppelten Ja muss die Stichfrage entscheiden. Doch – und das ist der entscheidende Punkt – hier hat sich durch die taktische Verschiebung in Gegnerlager rein gar nichts verändert. Die Tatsache, dass sich 2xNein-Stimmer zu einem taktischen Ja haben bewegen lassen, hat zwar im Modell dem Gegenvorschlag zu einem Ja verholfen, mehr Kreuze bei der Stichfrage hat es den Gegnern der Initiative allerdings nicht gebracht.

Es ist weiterhin so, dass jene, die die Initiative ablehnen, in der Stichfrage das Kreuz beim Gegenvorschlag machen, jene die die Initiative annehmenen, in der Stichfrage das Kreuz bei der Initiative machen.

Der Gegenvorschlag könnte nur dann in der Stichfrage gewinnen, wenn ein wesentlicher Teil jener, die zweimal Ja gestimmt haben, sich in der Stichfrage für den Gegenvorschlag aussprechen. Dies ist aber höchst unwahrscheinlich (siehe Update am Ende des Artikels).

Die genauen Stimmverhältnisse spielen für dieses Modell keine Rolle. Die Kernaussage ist: Das Resultat der Ausschaffungsinitiative wird sich praktisch 1:1 in der Stichfrage abbilden. Wenn die Initiative eine Mehrheit schafft, gewinnt sie im Zweifel auch den Stichentscheid. Wird sie abgelehnt – ja dann verhelfen vielleicht genau jene, die den Gegenvorschlag nur taktisch unterstützt haben, dem Gegenvorschlag zu einer Mehrheit.

PS: Ja, das alles hätte mir früher auffallen können und sollen. Und eigentlich hoffe ich noch immer, dass mir irgendwo ein Denkfehler unterlaufen ist. Das wäre mir ehrlich gesagt lieber, als wenn tatsächlich einer ganzen Armada von PolitikerInnen ein Denkfehler unterlaufen ist, aufgrund dessen nun etliche Menschen ein taktisches Ja in die Urne legen.

Update 22.11.
Aus der detaillierten Analyse von gfs.bern (PDF) geht aus Grafik 32 auf Seite 36 hervor: Von jenen, die ein doppeltes Ja einlegen, würden sich aktuell 61 Prozent in der Stichfrage “eher für die Initiative” entscheiden (also nicht, wie von mir angenommen, praktisch alle). 13 Prozent sind unentschlossen, 26 Prozent würden sich “eher für den Gegenvorschlag” entscheiden (was der für mich etwas seltsamen Haltung entspricht: “An der aktuellen Regelung muss sich etwas ändern. Am liebsten wäre mir der Gegenvorschlag, aber wenn der es nicht schafft, ist mir auch die Initiative recht”). Unter dieser Voraussetzung besteht eine geringe Chance, mit einem taktischen Ja zum Gegenvorschlag die Ausschaffungsinitiative zu verhindern.

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