“Ylenia war ein Sonnenschein”
December 23, 2007 (updated on October 24, 2009)
In Appenzell hoffen alle auf Ylenias Rückkehr, aber der Glaube daran schwindet.
Von David Bauer.
Medium: SonntagsZeitung
Ressort: Nachrichten
Datum: 5. August 2007
APPENZELL · Ein Lautsprecher beschallt die Terrasse des Express-Buffets am Bahnhof Appenzell mit Ländlermusik. «Komm heim zu mir», singt eine Stimme. Sie verhallt auf der leeren Terrasse.
«Schlimm ist das, ganz schlimm», sagt die Verkäuferin am Bahnhofskiosk. Charlotte Lenhard und «ihr Goofi», die kleine Ylenia, seien öfters bei ihr am Kiosk gewesen. «Im Dorf sind alle sehr betroffen und leiden mit», sagt sie.
Einige Schritte vom Bahnhof entfernt liegt der Dorfkern von Appenzell. Kleinere und grössere Gruppen von Menschen schlendern durch die Strässchen, lassen sich in den Restaurants und Cafés an der Hauptgasse nieder. Sie sprechen englisch, hochdeutsch oder japanisch. Sie besuchen die prunkvolle Kirche St. Mauritius und kaufen urige Souvenirs bei Bazar Hersche. Ausser der Vermisstmeldung mit dem Bild des Mädchens, die da und dort aufgehängt wurde, stört nichts die Idylle.
Dass Appenzell unter Schock steht, zeigt sich abseits des Zentrums. Die Strasse, in der die fünfeinhalbjährige Ylenia mit ihrer Mutter wohnt, ist menschenleer. Aus einigen Häusern beobachten Anwohner, was auf der Strasse läuft, einige ziehen die Jalousien zu. «Hier sind alle sehr mitgenommen», sagt eine Frau, die kurz am offenen Fenster auftaucht. Zeitungs- und Fernsehleute seien hier gross aufgefahren in den letzten Tagen, die Leute wollten in ihrer Trauer Ruhe haben. Damit schliesst auch sie das Fenster und die Fensterläden.
«Wir sind sehr traurig, mehr gibt es nicht zu sagen»
Eine Nachbarin kommt mit dem Auto nach Hause, sagt, sie sei nicht in der Lage, «darüber» zu reden, und wendet sich ab. Auf dem Balkon der Wohung unter jener der Lenhards steht ein älterer Mann und raucht. «Ylenia war ein Sonnenschein», sagt er mit schwacher Stimme. Seine Frau kommt hinzu. «Wir sind sehr traurig, mehr gibt es nicht zu sagen.» Sie bittet ihren Mann, wieder nach drinnen zu kommen. Es ist seltsam still, nur die Kuhglocken von der Weide am Ende der Strasse sind zu hören, eine Kinderschaukel steht verlassen im Vorgarten.
Vor dem Hallenbad, wo Ylenia am Dienstag zuletzt gesehen wurde, herrscht reger Betrieb. Der Parkplatz ist gut gefüllt, ein Dutzend Kinder strömt zum Eingang.
«Es ist schon seltsam, dass ausgerechnet am Dienstagmorgen niemand hier war und niemand etwas gesehen hat», sagt eine Anwohnerin, die direkt neben dem Hallenbad wohnt. Sie selber habe gearbeitet, in der Nachbarschaft seien einige in den Ferien, ein Haus stünde derzeit leer. Bei zwei Nachbarhäusern stecken die Vermisstmeldungen noch unberührt im Briefkasten.
«Ich habe keine Hoffnung mehr, das Kind ist sicher schon lange tot», sagt eine ältere Frau, die in der Nähe wohnt. Als eine Fernsehkamera auf sie gerichtet wird, gibt sie sich Mühe, doch noch ein wenig Optimismus auszustrahlen.
So wie ihr geht es vielen im Dorf: Man zweifelt. Aber die Leute versuchen, die Hoffnung nicht aufzugeben. Je länger Ylenia verschwunden bleibt, desto schwerer fällt das. «Dass dies ausgerechnet ihr passieren musste», bemitleidet die Anwohnerin Ylenias Mutter. Ausgerechnet ihr, die es ohnehin nicht leicht habe im Dorf. Man weiss, dass Ylenia ohne Vater aufgewachsen ist – bei der Mutter und ihrer Partnerin.
«Sie würde niemals mit einem fremden Mann mitgehen»
«Die beiden Frauen sind mit ihren Kindern lieber für sich alleine gewesen», erinnert sich Walter Messmer. Der parteilose Appenzeller Grossrat wohnt in der Nähe des Hauses, wo Charlotte Lenhard bis im Dezember letzten Jahres mit ihrer Partnerin und deren zwei Töchtern gewohnt hat. Inzwischen ist das Paar getrennt.
«Ylenia ist ein selbstständiges, robustes Mädchen», sagt eine Bekannte der Familie. «Sie würde nie einfach so mit einem fremden Mann mitgehen.» Ein Verwandter des Mädchens sagt: «Ylenia war zur falschen Zeit am falschen Ort – das war einfach Pech.»
Auf der Brücke unterhalb der Dorfkirche wehen acht Fahnen mit Schweizer Kreuz und Appenzeller Wappen im Wind. Sie sind nicht auf halbmast gesetzt, die Hoffnung lebt.